Meine Großmutter war 87 Jahre alt, leider schwer dement, aber durchaus noch lebenslustig, als sie vor jetzt ca. 20 Jahren an einer Grippe erkrankte. Sie entwickelte sofort hohes Fieber, hatte offensichtlich Gliederschmerzen (was wir vermuteten – sie konnte das nicht mehr benennen) und hustete. Sie verweigerte jegliche Nahrung und auch Getränke lehnte sie ab. Da sie eine starke Atemnot hatte, betteten wir sie mit erhöhtem Oberkörper in Rückenlage. Sie atmete schwer mit offenem Mund und rang um Luft. Die Schleimhäute im Mund trockneten aus und die Lippen wurden schnell rissig. Wir pflegten ihren Mund mit Wattestäbchen, die wir in kalte Getränke wie z.B. verdünnten Apfelsaft tauchten. Eingefrorene Ananasstückchen wickelten wir in Mull und gaben sie ihr zum Lutschen. Wir cremten die Lippen mit Honig und Butter und legten feuchte Handtücher auf die Heizung, um die Raumluft zu befeuchten. Wir hielten abwechselnde Wache bei ihr, lasen ihr vor, hielten ihre Hand oder sangen was. Wir riefen andere Familienangehörige an ihr Bett, damit sie sich von ihr verabschieden konnten. Das Gehör ist das Sinnesorgan, das sich im Mutterleib als erstes entwickelt und das sich im Sterbeprozess am längsten hält. Worte, Töne, Gesänge werden also auch immer noch wahrgenommen, wenn der kranke Mensch schon nicht mehr auf die Ansprache reagieren kann. Von Menschen mit Demenz wird vermutet – und dieses ist durch zahlreiche Berichte bestätigt – dass sie kurz vor ihrem Tode durchaus noch eine Klarheit zurückgewinnen können, die sie mehr wahrnehmen und bemerken lässt, ihnen manchmal sogar eine einst verlorene Stimme wiedergibt für kurze klare Worte.
Nach drei Tage später starb sie sanft und friedlich.
Ob sie das heute, in Zeiten von Corona, auch gedurft hätte? Ich wage es zu bezweifeln. Sie würde auf eine Intensivstation verlegt werden, geröntgt, getestet und mit Zugängen versorgt, die ihr Nahrung, Flüssigkeit und Medikamente geben und irgendwann würde sie an die künstliche Beatmung angeschlossen. Ihre Angehörigen hätten aus Infektionsschutzgründen keinen Zugang zu der Station, die alte Dame wäre allein in fremder Umgebung, unfähig sich zu orientieren, die Maßnahmen zu verstehen und sich zu äußern.
Das ist alles kein Spaß – schon für junge orientierte Menschen nicht, aber die könnten verstehen, dass all die Plackerei ihrem Besten, dem Erhalt ihres Lebens dient.
Die Lungenentzündung wurde früher als „Freund des alten Menschen“ bezeichnet: Das Fieber trübt die Sinne ein und macht schläfrig. Die langsame Dehydratation (Wasserverlust im Gewebe) wirkt wie ein sanftes Psychopharmakon und dämpft auch die Schmerzen.

Ich betrete jetzt Glatteis und höre schon vorwurfsvolle Stimmen:
Wie? Du möchtest die Alten sterben lassen? Du befürwortest die Triage, die Selektion von Patienten nach Priorität: der ist noch jung und der Gesellschaft nützlich, der ist schon alt und wird sowieso bald sterben…? Würdest du auch so reden, wenn es um dich oder um deine Liebsten handelt?
Ein Bild wird in den sozialen Medien verbreitet: Eine alte Dame aus Italien, lachend im Krankenbett, umringt von einer Anzahl Pflegenden und Ärztinnen, hebt stolz den Daumen in die Kamera. Ja, wie wunderbar, wenn es so gelingt! Doch die anderen Bilder sehen wir nicht…
Wo bleiben in diesem Tagen die Stimmen der Palliativmediziner? Wer orientiert sich an Patientenverfügungen? Wer hinterfragt dieses „Retten um jeden Preis“?
Was im Falle einer Krebserkrankung oder eines schweren Verkehrsunfalles gilt, sollte doch auch jetzt bedacht werden. Mein Eindruck ist, dass jede und jeder beatmet werden soll, weshalb jetzt auch die Sorge entsteht, dass die vorhandenen Geräte nicht ausreichen.
Ich bitte darum, nicht missverstanden zu werden: Genauso, wie jeder Patient das Recht auf maximale Therapie bei anderen Erkrankungen hat, sollte es auch bei Covid 19 –Erkrankten so sein. Aber auch nach durchgeführten Krebstherapien, die leider keine Heilung brachten, raten mutige Ärzte manchmal von weiteren Versuchen ab, die nur das Leid verlängern ohne Schritte in Richtung Gesundung oder zumindest Besserung zu bringen.
Das führt zum nächsten Punkt: geschlossene Hospize, Besuchsverbot für sterbende Menschen in Krankenhäusern, die Unmöglichkeit, sich würdig zu verabschieden vom noch Lebenden wie von dem schon Verstorbenen, aufgeschobene Trauerfeiern – muss das wirklich so sein? Wie viel Schaden richten wir mit der Kontaktsperre an!
Wir als Hospizbewegung bemühen uns seit 35 Jahren in Deutschland um eine veränderte Einstellung zur Endlichkeit des Lebens, um die Wiederentdeckung alter Abschieds- und Trauerkultur. Es wurde für viele Menschen unserer modernen Industriegesellschaft des „alles ist möglich“ deutlich, wie sehr das Bewusstsein um Endlichkeit die Lebensqualität eines jeden erhöht – und eben nicht das „immer mehr, immer höher, weiter“ und auch das immer längere Leben. Wie können wir diese Errungenschaft in Zeiten von Corona bewahren, diese neue/alte Kultur weiter pflegen ohne missverstanden zu werden als solche, die die Bemühungen um Eindämmung der Krankheit und Abflachung der Infektionskurve boykottieren wollten. Beides muss möglich sein.
Also: wie können Abschied und Trauer ermöglicht werden, ohne die Infektion zu verbreiten? Welche ganz praktischen Schutzmöglichkeiten gibt es? Wie kann Nähe ohne direkten Körperkontakt hergestellt werden? Nutzen wir unser aller Wissen!
Daran sollten wir arbeiten.

Angelika Thaysen, 30.3.2020